Zur Person Willy Brandt

Willy Brandt wurde am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren. Seine Mutter war zum Zeitpunkt seiner Geburt erst 19 Jahre alt, sie arbeitete in Lübeck als Verkäuferin. Im Alter von nur 16 Jahren trat Willy Brandt, dessen Geburtsname Herbert Karl Frahm lautete, der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) bei. Nur kurze Zeit später wurde er Mitglied in der SPD, 1931 wechselte er zu der von der SPD abgespaltenen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), wo er  Vorsitzender der Jugendorganisation wurde. Willy Brandt hat 1932 sein Abitur abgeschlossen und war in der Folge als Volontär in einer Schiffsmaklerfirma beschäftigt.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang die SAP in den Untergrund. In diesem Zusammenhang nahm Herbert Karl Frahm den Namen Willy Brandt an. Unter dem Schutz seines Decknamens gelang ihm 1933 über Dänemark die Flucht nach Norwegen. Willy Brandt arbeitete in Oslo als Journalist und war auch politisch weiterhin aktiv, auch seine Kontakte nach Berlin konnte er aufrecht erhalten. Im Spanischen Bürgerkrieg ging er für die SAP-Auslandszeitung nach Barcelona, worauf hin ihm von den NS-Machthabern die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Willy Brandt geriet nach der Besetzung Norwegens in deutsche Kriegsgefangenschaft, seine wahre Identität und Herkunft wurde jedoch nicht erkannt und er konnte nach Schweden fliehen, wo er die norwegische Staatsbürgerschaft erhielt.

 Willy Brandt trat in Stockholm, wo er als Journalist arbeitete, wieder der Exilorganisation der SPD bei. Mit Kriegsende 1945 reiste er nach Deutschland, um über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zu berichten. Als Besitzer eines norwegischen Diplomatenpasses kam Brandt dann1946 nach Berlin, wo er als Presseattaché der norwegischen Militärmission arbeitete. Am Ende des Jahres 1947 ließ er sich wieder unter dem Namen Willy Brandt in Deutschland einbürgern und übernahm 1948 die Leitung des Berliner Verbindungsbüros des SPD-Vorstandes. Ab 1949 wurde er als Abgeordneter in den Bundestag, sowie zum SPD-Kreisvorsitzenden in Berlin-Wilmersdorf gewählt. Am 11. Januar 1955 wurde Willy Brandt Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses.

Willy Brandt wurde am 3. Oktober 1957, nach dem Tod von Otto Suhr, Regierender Bürgermeister von West-Berlin, außerdem war er seit 1958 Landesvorsitzender der Berliner SPD. Politische Ereignisse wie das Chruschtschow-Ultimatum von 1958, der Mauerbau von 1961 und die Kuba-Krise von 1962 fielen in die Amtszeit Brandts. Konfrontiert mit den Expansionsbestrebungen der Sowjetunion, gelang es ihm, diese mit einer "Politik der kleinen Schritte" zu entschärfen, ein konkretes Ergebnis dieser Politik war u.a. das Passierscheinabkommen vom Dezember 1963. Nach der Großen Koalition bildete er 1969 eine Koalition mit der FDP. Von 1958 an gehörte Brandt zum Bundesvorstand seiner Partei, er wurde stellvertretender Bundesvorsitzender und ab 1962 bis 1987 schließlich Bundesvorsitzender. In den Jahren 1961 und 1965 ist er dann als Kanzlerkandidat der SPD gescheitert.

Als im Herbst 1966 die Bonner Regierungskoalition aus CDU und FDP an einem Streit über den Haushalt auseinanderbrach, verließ Brandt Berlin, um als Außenminister und Vizekanzler Mitglied der Bundesregierung zu werden. Die SPD gewann 1966 die Bundestagswahlen, und Willy Brandt wurde Bundeskanzler in einer Koalition aus SPD und FDP. Brandt erhielt so Gelegenheit, seine als Regierender Bürgermeister begonnene Ostpolitik nach dem Prinzip "Wandel durch Annäherung" weiter zu gestalten und zu vertiefen. Drei Monate nach Verabschiedung des Viermächteabkommens über Berlin im September 1971 nahm Willy Brandt als Würdigung seiner Entspannungspolitik den Friedensnobelpreis entgegen.

1974 wurde dann ein enger Mitarbeiter Brandts, Günter Guillaume als DDR-Spion enttarnt. Willy Brandt trat in Folge dieses Vorfalls schließlich im Mai 1974 als Bundeskanzler zurück. 1976 wurde er zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale gewählt, im Dezember desselben Jahres übernahm er auch den Vorsitz der auf Initiative der Weltbank eingesetzten "Nord-Süd-Kommission". Willy Brandt befasste sich in dieser Funktion intensiv mit entwicklungspolitischen Fragen, trat für den sozialen Ausgleich ein und engagierte sich weltweit für Frieden und Menschenrechte. Ab 1987 war er außerdem Ehrenvorsitzender seiner Partei.

Als späte Bestätigung der Politik Brandts gelten der Mauerfall 1989 und die deutsche Wiedervereinigung. In diesem Zusammenhang ist der Satz Brandts, "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört." berühmt geworden. Am 8. Oktober 1992 erlag Willy Brandt in Unkel bei Bonn einem Krebsleiden.

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Abituraufsatz Willy Brandts von 1931/32

(Ich hätte am liebsten das zweite Thema gewählt. Aber da hätte ich einen großen Teil dessen, was ich in meinem Studienaufsatz »Besinnung auf Goethe« schrieb, wiederholen müssen. Darum habe ich mich für das dritte Thema entschieden.)

Ein Berliner Oberprimaner hielt eine Abschiedsrede: »Wir haben der Schule für ihre Erziehungsarbeit keinen Dank abzustatten. Wir können von dem, was sie uns gelehrt hat, nichts gebrauchen. Wir sind eine Jugend ohne Hoffnung.«

Stellen wir uns einmal vor: die Aula der Schule ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Schüler in ihren Sonntagsanzügen. Nur die Oberprimaner, die heute entlassen werden sollen, sind noch nicht da. Die Eltern haben in den ersten Bänken Platz genommen. Da kommt die lange Reihe der Abiturienten in den Raum, die nun noch ganz vorn sitzen. Der Chor singt, das Schulorchester spielt. Dann spricht der Vertreter der Primaner. Was soll er schon viel sagen? Er wird wiederholen, was sein Kollege im vorigen Jahr gesagt hat und was noch Generationen nach ihm sagen werden, nämlich, daß sie der Schule zu ganz ungeheurem Dank verpflichtet seien. Daß sie immer freudig an die schönste Zeit ihres Lebens zurückdenken würden; die ihnen die lieben Herren Lehrer hier zu einem Born gemacht hätten, aus dem immer wieder zu schöpfen sei. Dann wird er sicher einen lateinischen Spruch einflechten, den außer ihm und den Herren Philologen niemand versteht, nun, und dann einige Worte auf das deutsche Vaterland. Dann ist die Rede aus. Und sie war soooo -- schön.

Aber das kommt diesmal anders. Diesmal spricht der Primaner nicht die Schablonen nach, die man erwartet. Er sagt genau das Gegenteil. Keinen Dank der Schule. Nichts können wir von dem gebrauchen, was die Lehrer uns gelehrt haben. Seine Mitabiturienten fühlen, daß er wirklich als einer der ihren spricht.

Die Lehrer sind garnicht zufrieden. Sie können sich einfach nicht abfinden mit dem, was dieser Mensch da sagt. Zwölf Jahre lang haben sie sich gemüht, etwas Ordentliches aus den Jungens zu machen. Und nun dieses. Na, Undank ist der Welt Lohn.

Die Eltern können sich ebenso wenig damit abfinden. All die Jahre haben sie das Schulgeld bezahlt und noch viel mehr. Das ist also alles für nichts gewesen. Der Behördenvertreter schüttelt mit dem Kopf. Der Staat hat sowieso kein Geld. Jährlich gehen viele tausend Mark durch die höheren Schulen weg. Das ist also alles umsonst.

Dem Herrn Direktor ist es garnicht leicht, mit seiner Rede wiederaus- zugleichen, was da von dem jungen Mann gesagt wurde. Ist das Undank? Ist das Opposition gegen Lehrer, gegen Eltern, gegen Staat, nur um der Opposition willen? Nein, und dennoch: »Wir haben der Schule für ihre Erziehungsarbeit keinen Dank abzustatten. Wir können von dem, was sie uns gelehrt hat, nichts gebrauchen. Wir sind eine Jugend ohne Hoffnung!«

Ich habe mich auseinanderzusetzen mit dieser Behauptung. Da heißt es am einfachsten: ja oder nein? Tertium non datur.

Und doch kann man nicht immer mit einer solchen Schwarz-weiß-Malerei auskommen. Zwischen den Extremen gibt es mannigfaltige Zwischentöne. Hat der Berliner Oberprimaner Recht oder nicht? Wenn ich wählen soll zwischen j a und nein, entschiede ich mich für ja. Es ist nicht ganz ohne Bedeutung, daß ein Berliner so gesprochen hat. Berlin ist konzentrierte Provinz. Und wenn die Provinz ein halbes Ja sagt, wird in der Hauptstadt ein ganz klares, überspitztes |a oder Selbstverständlich daraus. Ich glaube, daß es an der Zeit ist, so klar zu sagen, was man meint, wie es der Berliner Oberprimaner getan hat. Es kommt wahrhaftig nicht darauf an, ob unsere Eltern oder unsere Lehrer oder unsere Behördenmenschen mit uns zufrieden sind. Es kommt wirklich darauf an, daß wir selbst mit uns zufrieden sind. Jugend ist Opposition - sagt das Alter. Wenn ihr älter werdet,wird eure Opposition sich ausgleichen. Ihr werdet werden wie die Alten, mit denen ihr so unzufrieden wart. -- Aus oppositionellen Jugendbeweglern sind rückständige Spießer geworden.

Jugend ist Optimismus -- das sagt man uns auch immer. Und hier? Ist das optimistisch, was der Primaner sagt? Das ist im Gegenteil voller Pessimismus. Die Pole haben also ihr Vorzeichen verändert. Mit dem bekannten Körnchen Salz will ich meinem Berliner Freund Recht geben. Das zu beweisen ist nicht ganz einfach.

Lübeck ist nicht Berlin, worüber ich mich manchmal schon geärgert habe. Aber nur manchmal, meistens denke ich doch: ein Glück. Lübecker Primaner sind keine Berliner Primaner. Da sagen vor allem die Lehrer und Eltern: ein Glück. Aber so groß ist der Unterschied nicht, glaube ich. Ich will nicht beweisen, daß wir »schlechter, also berlinischer« sind, als die Lehrer glauben. Sowas beweist man nicht. Als wir uns vor kurzem in unserer Klassengemeinschaft über den Abschluß der Schullaufbahn unterhielten und damit auf die Schulfeier kamen, da war die allgemeine Meinung: »wer die Rede häIt, soll aber nicht wieder denselben Quatsch wie immer erzählen. Der soll den Paukern das mal ordentlich geben.« Das war roh gesagt dasselbe wie das, was der Berliner näher umschrieb.

Was hat mir die Schule gegeben?

Erstens, wenn alles gut geht, einen Berechtigungsschein, der zu nichts berechtigt. Aber vielleicht kann ich ja Konditor mit Abitur werden.

Es wäre ungerecht drum zu sagen, die Schule hätte also nichts gegeben, weil wir mit der Schlußbescheinigung der Schule nichts anfangen können. Der wissenschaftliche Mensch, der sittliche Mensch und wie heißen doch all die Menschen, die man aus uns gemacht hat. Ich glaube, unsere Schule steht viel zu sehr in der Vergangenheit, um Menschen der Gegenwart, geschweige denn Menschen der Zukunft, auf eigene Füße stellen zu können. Es wird mir nicht leicht, zu unterscheiden zwischen dem, was mir die Schule gegeben hat und dem, was ich mir von sonstwoher erarbeitet habe. Aber schon diese Unklarheit, dieser Zweifel also an dem unbedingten Empfangen von der Schule ist ein Vorwurf.

Die Schule hat mich zum wissenschaftlichen Menschen gemacht? Ich weiß nicht, ob das stimmt, deshalb keine Ausrufungs- sondern ein Fragezeichen. Meine Lehrer haben sich über meinen besonderen wissenschaftlichen Eifer von mir aus sicher nicht erfreuen können. Ich habe aber festgestellt, daß das wissenschaftliche Pensum der Schule garnicht so groß ist, daß ein besonderer Eifer dazugehört. Übrigens bin ich froh, wenn ich manches von der »Wissenschaft« so schnell wie möglich vergesse.

Ich habe in der Schule gelernt, die Dinge zusammenhängend zu sehen. Am meisten nehme ich sicher aus meinem deutschen und geschichtlichen Unterricht mit. Nur da ist es gerade die zusammenfassende Linie durch die Geschichte des deutschen Volkes, die zusammenhängende, immer wieder ineinander greifende Geschichte des deutschen Geistes.

Aber hätte ich das nicht auch lernen können, ohne die Schule besucht zu haben. Ich glaube ja. Mit mehr Mühe allerdings. Aber ich glaube, daß ich mich zu dem bescheidenen Maß von Wissenschaftlichkeit, von zusammen- hängendem, logischem Denken auch sonst durchgearbeitet hätte.

Ich bin zum Leidwesen meiner Lehrer die letzten Jahre immer meine eigenen Wege gegangen. Ich bin nicht traurig darüber. Sondern ich freue mich, denn ich glaube, ich wäre ein armer Mensch, hätte ich nicht das, was ich selbst erarbeitet habe.

Die Schule hat mich zum sittlichen Menschen gemacht? Daß man dies tut und jenes nicht tun darf oder vielmehr daß man sich nicht fassen lassen darf, wenn man es doch tut, das lehrt einen auch das Leben außerhalb der Schule. Aber ich komme noch darauf zurück.

Ich sagte, unsere Schule steht in der Vergangenheit. Sie schafft keinen Menschen des gegenwärtigen Lebens und darum fühlt sich der Primaner zu keinem besonderen Dank verpflichtet. Wir sehen gerade, daß diejenigen unserer Kameraden, die nur pflichtgetreue Pennäler sind, sich mit dem Leben garnicht abfinden können. Sie werden nicht so leicht scheitern, weil sie zur -- Universität gehen.

Es ergibt sich die Frage, ob die Schule Menschen der Wissenschaft oder Menschen des Lebens erziehen soll? Diese Frage konnte solange von keiner Bedeutung sein, wie jeder Abiturient mit Sicherheit seine Laufbahn vor sich hatte, d. h. meistens doch gesichertes Studium und dann gesicherte Lebensgrundlage. Heute sehen wir, außer einigen wenigen, alles  schwarz in schwarz. Und da kommen wir nicht weit mit dem, was die Schule uns gelehrt hat. Die Erziehung ist nicht irgendetwas in der Luft Schwebendes. Sie hängt von ganz vielen Dingen ab. Solange die Menschheit bäuerlich lebte, spielte auch die Schulfrage keine Rolle. Die Städte erst erzogen sich ihren Nachwuchs ganz planmäßig. Die Frage der Kultur ist aufs Engste verknüpft mit der Frage der Gesellschaft, mit der Frage der Politik. heute?

Dem halbabsolutistischen Staat entsprach die autoritative Erziehung, das konservative Erziehungssystem. In der Politik setzte sich der Liberalismus durch, in der Wirtschaft entsprach das Manchestertum dieser Entwicklung. Und es entstand die liberale Schule.

Der Liberalismus ist auf der ganzen Linie zusammengebrochen. Politisch will ihn niemand mehr, der Ruf nach dem Führer ist die große Mode. Wirtschaftlich kann das Manchestertum nicht vorwärts noch rückwärts. Es bricht in sich zusammen.

Auch die liberale Schule hält sich nicht. Eine Autorität gibt es auf der Schule kaum mehr. Hier eine neue Autorität, auf Gemeinschaft beruhend, statt in die konservative Autorität zurückzukehren, aufzubauen, bleibt die große Auf- gabe.

Selten hat eine Zeit auf so schwankendem Boden gestanden wie die Nachkriegszeit. Die demokratische Republik war die neue demokratische Form. Die Wirtschaft änderte sich nicht. Auch die realen Machtfaktoren Militär, Bürokratie usw. nicht. Auch die Schule fand keinen neuen Weg. Das ist ihr nicht besonders anzukreiden.

Es gibt ja keinen einheitlichen Zug seit 1919. Parteien glaubten, mit Parlamentarismus die Demokratie eingeführt zu haben. Politische Demokratie allein gibt es aber nicht. Soziale und kulturelle Demokratie gehören zur wirklichen Demokratie hinzu.

Unsere Schule lebte in einem schwankenden Liberalismus dahin. Sie stellte sich nicht auf den demokratischen Boden, den es ja allerdings auch nur auf dem Papier und nie in Wirklichkeit gab. Sie fand auch den Weg nicht zurück zur alten Schule. Man kann ja nicht das Rad der Geschichte rückwärts drehen. So entstand das ewige Schwanken. Wer meint, daß die Erziehung ein Ding an sich, daß die Kultur losgelöst von allem anderen sei, der wird allerdings, glaube ich, weniger leicht mit diesen Dingen fertig.

Aus Rußland kommt uns ein neues Schulsystem, oder wenigstens der Versuch. Aus Italien ein anderer. Italien führt die autoritative Erziehung in starkem Maße durch. Gehorsam dem Führer ist erstes Gebot. Militärische Erziehung, nationale Erziehung vom fünften Jahre an in den faschistischen Balillas. Wer das faschistische System an sich als das der Zukunft ansieht und es erwünscht, muß auch diese Form der Erziehung für den Ausweg halten.

In Rußland Erziehung zur Gemeinschaft. Das ist keine utopische Ange- legenheit. Und der Weg zur Gemeinschaft ist auch kein ganz einfacher. Politisch hat Rußland das Sowjetsystem, die Diktatur des Proletariats. Also Erziehung in diesem Sinne. Wirtschaftlich leisten die Sowjets Ungeheures. Und das macht das Wesen ihrer Herrschaft überhaupt aus, daß sie aus einem rückständigen Agrarland ein fortschrittliches Land mit modernster Technik, mit vollendeter Industrialisierung machen. Man hat ihnen 15 Jahre lang Untergang prophezeit. Sie marschieren vorwärts. Darauf ist natürlich die ganze russische Erziehung eingestellt. Die Heranbildung von tüchtigen Menschen der Wirtschaft, der Industrie ist die Hauptsorge der Sowjets. Für die technischen Hochschulen geben sie mehr aus als für die übrigen Universi- täten.

Dieses ist also der andere Weg aus der Haltlosigkeit unserer Lage. Erziehung für die Gemeinschaft, Erziehung für den planmäßigen Aufbau. Mitteleuropas Wege werden andere sein als die Rußlands und Italiens, sie werden aber irgendwie in einer dieser Richtungen liegen. Jugend ohne Hoffnung! -- so sagt unser Berliner Freund und trifft damit die ganze Ausweglosigkeit unserer Lage.

Aber die Schule ist nicht Schuld daran, denn sie ist ja abhängig von anderen Faktoren. Ein Ausweg ist zu suchen. Denn es ist gewiß etwas Unnatürliches, wenn die Jugend, die früher den Weg des Führers der Nation klar vor sich sah, heute nicht weiß, wohin. Sie steht vor einem Nichts. Ihre Illusionen werden zerstört, ihre Hoffnungen verschwinden. Sie klagt an! Man wird gut tun, ihre Anklage zu prüfen. Die Jugend selbst aber soll sich nicht immer den Alten gegenüber nur hinstellen und sagen: Ihr seid schuld! Und dann noch auf einen Ausweg hoffen. Wenn die Jugend sich auf die andern verläßt, ist sie ewig verlassen. Hoffen wir, daß sie eine Jugend nicht nur ohne sondern vielmehr mit Hoffnung sei!

Willy Brandt, Berliner Ausgabe, hrsg.v. Helga Grebing, Gregor Schöllgen u. Heinrich August Winkler, im Auftrag der Bundeskanzler- Willy-Brandt-Stiftung, Bd. 1, Hitler ist nicht Deutschland, Jugend in Lübeck – Exil in Norwegen 1928-1949, bearbeitet von Einhard Lorenz, Verlag J:H.W Dietz Nachf. GmbH, o.J; s. auch unter: Berliner Ausgabe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, http://www.willy-brandt.de/stiftung/forschung/berliner-ausgabe.html

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